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19.09.2006 Medizintechnik / Hochschule

Die Gehirn-Aktivisten

Im Oktober 1999 ändert sich das Leben von Hans-Jürgen M. schlagartig. Nach einer Gehirnblutung wird der damals 53-Jährige in die Klinik eingeliefert. Betroffen ist unter anderem die linke Hälfte seines Gesichtsfeldes. Was das bedeutet, wird ihm später beim Gang über den Klinikflur bewusst: Putzwagen, die am Flurrand stehen, erkennt er nicht, anwesende Personen tauchen für ihn „aus dem Nichts“ auf. „Diese Einschränkung machte mich sehr unsicher“, erzählt der Diplom-Ingenieur. „Auch so einfache Dinge wie sich auf dem Essentablett zurecht zu finden, ohne etwas umzukippen, ließen mich manchmal verzweifeln.“
 
Ansicht von New York
Am Madison Square Garden: Normaler zentraler Gesichtsfeldausschnitt bei unbewegtem Auge
Professor Fritz Schmielau, Leiter des Institutes für Medizinische Psychologie der Uni Lübeck, kennt solche Schilderungen. Es sind typische Probleme, die auftreten, wenn im Gehirn Zellen geschädigt sind, in denen visuelle Reize verarbeitet werden. Während ein gesunder Erwachsener mit unbewegten Augen horizontal einen Bereich von etwa 180 Grad erfassen kann, nehmen die Patienten ganze Areale nicht mehr wahr. „Das ist, als ob bei einer Landkarte ein Teil ausgelöscht wurde“, sagt der Professor. Ursache kann eine Hirnblutung sein, ebenso ein Schädel-Hirn-Trauma, eine Tumor-Operation oder ein Schlaganfall. Allein letzterer trifft mehr als 150.000 Bundesbürger pro Jahr, rund ein Drittel davon leidet unter Sehstörungen.
 
Blick bei zerebralem Gesichtsfeldausfall
Gesichtsfeld einer 48 Jährigen 9 Monate nach Hirnblutung im Versorgungsgebiet der rechten mittleren Hirnarterie
Wirksame Methoden zur Behandlung gab es lange nicht. Anfang der 90er Jahre entwickelte Schmielau mit seinem Team das Lübecker Reaktionsperimeter (LRP), eine fast zwei Meter große Apparatur in Form einer Halbkugel. Der Patient sitzt davor. Die Augen auf einen Punkt fixiert, werden ihm Lichtreize vorgeführt, auf die er per Knopfdruck reagieren soll.

Ein spezieller Algorithmus sorgt dafür, dass diese Reize gezielt den Übergang vom gesunden zum blinden Gesichtsfeldbereich stimulieren. Wohl gemerkt: Auge und Sehnerv der Patienten sind intakt – das Gehirn soll aktiviert werden. „Wichtig ist, eine höchst mögliche Aufmerksamkeit zu erzeugen“, sagt Schmielau. Der Patient weiß, wo das Licht in etwa erscheinen wird, ein Ton signalisiert ihm, dass ein neuer Reiz bevorsteht. Stück für Stück soll verloren gegangenes Terrain in der Wahrnehmung zurück gewonnen werden. Das Programm passt sich Verbesserungen sofort an – und fordert den Patienten damit unentwegt.

Teil des Gesichtsfeles, der durch Training nach der Lübecker Methode von einer Patientin wieder wahrngenommen wurde
Gesichtsfeldzuwachs in sechs Monaten durch Rehabilitation nach der Lübecker Methode (insgesamt 72 Übungen); alle drei Fotos: VisionTrainer
In mehreren Studien konnte Schmielau die Wirksamkeit des Patent geschützten Verfahrens nachweisen. Die Erfolge bleiben auch nach Ende des Trainings im Wesentlichen bestehen. Doch die ambulante Therapie ist teuer, zumal über Monate täglich geübt werden muss. Deshalb haben die Informatiker Marc Willmann und Eike Jähn jetzt ein wesentlich günstigeres Training für zu Hause entwickelt: den VisionTrainer.

Mit dem VisionTrainer kann der Patient am eigenen PC trainieren. Die Lichtreize erscheinen auf dem Monitor, reagiert wird per Mausklick. Jede Trainingssitzung wird auf einem externen Server dokumentiert. Das geschieht über das Internet. Der medizinische Betreuer hat von seinem PC aus jederzeit Zugriff auf die Ergebnisse und kann gegebenenfalls in die Therapie eingreifen. Umfangreiche Verschlüsselung schützt die Daten vor der Einsicht Fremder.

Ein großer Vorteil des VisionTrainers sei die gewonnene Unabhängigkeit von Klinikterminen, sagt Willmann. „Der Patient kann dann trainieren, wenn er am aufmerksamsten ist.“ Besitzt er keinen Rechner, kann er ein Gerät leihen. Die Anwendung ist so einfach, dass Computerkenntnisse nicht erforderlich sind. Und: Die Software funktioniert unter verschiedenen Betriebssystemen.

Prof. Achim Walter vom Lehrstuhl für Gründungsmanagement der Uni Kiel informiert die Gründer Eike Jähn und Marc Willmann (v.l.) über Wege der Kundenansprache
Prof. Achim Walter vom Lehrstuhl für Gründungsmanagement der Uni Kiel informiert die Gründer Eike Jähn und Marc Willmann (v.l.) über Wege der Kundenansprache
Um ihre Systemlösung zu vermarkten, haben die Jungunternehmer im Frühjahr die VisionTrainer GmbH gegründet. Wertvolle Tipps zur Kundenansprache erhielten sie auf dem Gründertag der Entrepreneurs’ Innovation Summer School (EISS). EISS ist eine Kooperation vom Kieler Lehrstuhl für Innovationsmanagement und der Innovationsstiftung Schleswig-Holstein. „Extrem gut war, dass die Referenten intensiv auf unsere konkreten Probleme eingegangen sind“, sagt Willmann.

Als Partner für den VisionTrainer haben die Firmengründer Rehabilitationszentren und Fachpraxen im Visier. Dass die Lübecker Therapie auch am PC funktioniert, zeigt die Statistik: 2005 haben 21 Patienten mit dem VisionTrainer trainiert. Bei 81 Prozent kam es zu einer deutlichen Erweiterung des Gesichtsfeldes. Zwei der Patienten dürfen inzwischen sogar wieder Auto fahren.


 
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