06.12.2006 | Lebensmitteltechnologie |
Aus Kenntnissen Erkenntnis gewinnen: Diskussion über Lebensmittel der ZukunftEr war nach Kiel gekommen, um Denkanstöße zu geben. Die Reaktion des Publikums zeigte: Es ist ihm gelungen. Prof. Dr. Michael Bockisch war bis zu seinem altersbedingten Ausscheiden vor wenigen Wochen hochrangiger Manager im weltweit drittgrößten Nahrungsmittelkonzern Unilever. Als Gastredner beim diesjährigen Parlamentarischen Abend der Innovationsstiftung Schleswig-Holstein bezog der promovierte Chemiker Stellung zu Trends und Entwicklungen in der Lebensmittelbranche. Bockisch forderte zu einem ehrlichen Dialog zwischen Industrie, Wissenschaft und Verbrauchern auf: Wir müssen bewusst entscheiden, nicht emotional ein Appell, der sich wie ein roter Faden durch seinen Vortrag zog.Wozu moderne Analytik auch in der Lebensmittelforschung in der Lage ist und wie wichtig damit der verantwortungsbewusste Umgang mit den Daten wird, verdeutlichte Bockisch auf humorige Art anhand des Beispiels. Man stelle sich vor: Ein Bayer reist nach China und mischt sich dort unter die 1,3 Milliarden Chinesen. Experten in der Spurenanalytik sprechen von parts per billion, also von Teilen pro Milliarde (1 billion in den USA entspricht einer Milliarde), wenn sie beispielsweise Verunreinigungen von Stoffen in vergleichbarer Konzentration nachweisen. Die Analytik habe früher unvorstellbare Regionen erreicht: Heute könnten selbst einzelne Atome oder Bruchstücke einzelner Moleküle nachgewiesen werden. Doch zurück zum Bayern. Entscheidend seien laut Bockisch die gewählte Stoffprobe und vor allem die Interpretation des Ergebnisses: Findet man in einer zufällig ausgewählten Gruppe von zehn in China lebenden Menschen den Bayern, heiße dies nicht, dass jeder zehnte Einwohner Chinas aus dem Freistaat stamme. Andersherum sei es ebenso falsch, zu behaupten, es gäbe keine Bayern in China, wenn man ihn in der Probe nicht findet. Analytik ist genial, wo sie dabei hilft, Mechanismen aufzuklären, sagte Bockisch. Mit immer feineren Untersuchungsmethoden sei das Wissen des Menschen stark angewachsen. Aber, so fragte der Experte, wuchs auch unser Bewusstsein mit? So seien Stoffe, die schon immer in Lebensmitteln vorhanden waren, heute nachweisbar mit zum Teil paradoxen Folgen. Beispiel Zimtsterne: Sie enthalten den Aromastoff Cumarin, der die Leber schädigen kann, weshalb das Saisongebäck zuletzt in die Schlagzeilen geriet. Plötzlich würden Empfehlungen ausgesprochen, man solle nicht mehr als vier Zimtsterne pro Tag essen, berichtete Bokisch. Wenn aber Menschen nachfragten, die in der Vergangenheit viel Zimt zu sich genommen haben, dann hieße es, keine Sorge, alles sei halb so wild, die aufgenommenen Mengen seien nicht schädlich. Wir müssen aus Kenntnis Erkenntnis gewinnen, sagte der Ex-Manager. Die Relevanz der Daten, ihre Bewertung sei entscheidend. Zu den großen Themen, die die Ernährungsindustrie künftig verstärkt beschäftigen wird, zählen so genannte funktionelle Lebensmittel. Darunter versteht man Lebensmittel, deren Verzehr dem Menschen einen spezifischen, über die übliche Ernährung hinausgehenden wissenschaftlich nachgewiesenen Nutzen liefert. Bockisch erwartet neue funktionelle Lebensmittel vor allem von großen Unternehmen denn nur Konzerne könnten sich die Entwicklung solcher Produkte leisten.Als Beispiel nannte Bockisch eine Margarine, die mit in Ölsaaten natürlich vorkommenden Sterinen angereichert ist. Ein regelmäßiger Verzehr in üblichen Mengen führt zu einer Senkung des Cholesterinspiegels. Die Entwicklung des Produktes habe Jahre gedauert, die Kosten bezifferte er mit 100 Millionen Euro. Solche Vorleistungen rentierten sich nur bei Lebensmitteln, die stark nachgefragt würden. Vor jeder Entwicklung stehe schließlich die Wirtschaftlichkeitsprüfung. Ob Bluthochdruck oder rheumatische Beschwerden vor allem auf dem Gebiet der Volkskrankheiten sei aus demselben Grund mit funktionellen Lebensmitteln zu rechnen. Forschungskooperationen mit Hochschulen seien für die Industrie vor allem dann von Interesse, wenn an einem Uni-Standort Forscher verschiedener Disziplinen gezielt zusammenarbeiten würden. Als wertvoll für die menschliche Ernährung gelten langkettige Omega-3-Fettsäuren. Sie sind nur in frei lebenden Fischen, nicht jedoch in Fischen aus Zuchtfarmen enthalten. Immer mehr Fisch auf dem Speiseteller stammt jedoch nicht zuletzt wegen der weltweiten Überfischung aus Aquakultur. Solche langkettigen Omega-3-Fettsäuren ließen sich mit Verfahren der Biotechnologie in Raps züchten, erläuterte der Vizepräsidenten des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde. Gentechnik für die Produktion von Lebensmitteln? Nichts verschweigen, aber auch nichts verteufeln, lautet Bockischs Ratschlag. Altersblindheit etwa, ein weiteres Volksleiden, könne mit Kartoffeln bekämpft werden. Auf Versuchsfeldern wurden bereits gentechnisch veränderte Kartoffeln gezüchtet, die in ihren Knollen den Wirkstoff Xeaxanthin anreichern und zwar in einer Menge, die bei üblichen Ernährungsverhalten nach Meinung von Wissenschaftlern wirksam der Entstehung der Altersblindheit verhindert. Es gelte, das Für und Wider der Gentechnik sachlich und sorgfältig abzuwägen, sagte Bockisch. Und noch einen Punkt sprach der Gastredner an: Nicht das Essen, sondern falsches Verhalten macht krank. Sehr eindrucksvoll war seine Vorführung von Daten über die Entwicklung der Fettleibigkeit in den USA: Der Anteil derjenigen Menschen, deren Body-Mass-Index weit über empfohlenen Werten liegt, hat demnach in den vergangenen Jahren rapide zugenommen. Ein Grund: Bewegungsmangel. Wir haben es mit einem gesellschaftlichen Problem zu tun, sagte Bockisch. Doch auch wenn sich die Gewohnheiten verändert haben, eines gelte laut Bockisch nach wie vor: Lebensmittel sind Kultur und nicht bloße Kalorienzufuhr. Oder, um es mit einem von ihm angeführten Ringelnatz-Zitat auszudrücken: Selbst Vegetarier beißen nicht gern ins Gras. |
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Vortrag von Prof. Bockisch zum Download
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